Alpenüberquerungen liegen seit vielen Jahren im Trend. Man denke nur an die vielen E5-Wanderer, die von Oberstdorf nach Meran wandern (oder strömen). Auch die Überquerung vom Tegernsee nach Sterzing ist sehr beliebt, weil technisch einfach und recht bequem. Immer wieder kommen neue Nord-Süd-Durchquerungen dazu, etwa vom Königssee zu den Drei Zinnen. Was fast alle dieser Durchquerungen gemeinsam haben, ist die Tatsache, dass man oft mehr mit Taxi, Bus oder Bergbahn unterwegs ist als auf Schusters Rappen. Auch ist die Bezeichnung "Alpenüberquerung" meist schamlos übertrieben. So sind beispielsweise in Meran die Alpen noch längst nicht zu Ende. Im Gegensatz dazu verdient der seit Jahrzehnten beliebte "Traumpfad München-Venedig" seinen Namen wirklich – jedenfalls dann, wenn man die ganze Strecke zu Fuß zurücklegt.
Nun ist der Alpenbogen maximal etwa 250 km breit, aber rund 1200 km lang. Da wäre es doch reizvoll, das Gebirge in Ost-West-Richtung zu durchqueren, von Wien bis zum Ligurischen Meer bzw. vom Wienerwald bis zu den Seealpen. Die Idee eines solchen Wanderprojekts kam mir um das Jahr 1980 herum beim Lesen eines Artikels im "Bergsteiger". Die Zeitschrift berichtete damals von einigen Alpinisten, die ein solches Projekt durchgeführt hatten. Weitere Anregungen entnahm ich dem Buch "Die schönsten Wanderrouten der Alpen" von Toni Hiebeler und der wunderbaren Erzählung "Alpenspaziergang" von Karl Lukan.
Möchte man eine solche Ost-West-Durchquerung am Stück durchziehen, benötigt man mindestens drei oder vier Monate, was für mich aus beruflichen Gründen nicht in Frage kam. So endlos sind die Großen Ferien eines Lehrers dann doch nicht! Daher beschloss ich, meine Durchquerung in Etappen zu teilen. Wie viele Etappen es sein würden und dass dieses Projekt 30 Jahre in Anspruch nehmen würde, war mir damals nicht ganz klar.
Ich hatte auch nicht die Absicht, in möglichst kurzer Zeit das Mittelmeer zu erreichen. Vielmehr wollte ich auch interessante Gipfel am Weg mitnehmen, solange die technischen Schwierigkeiten nicht zu groß waren. Aus diesem Grund verläuft mein Weg über die Alpen nicht immer ganz logisch. Der grobe Verlauf stand von Anfang an fest, nämlich die Außenkurve der Alpen, nach Möglichkeit in der Nähe des Alpenhauptkamms, aber ohne Gletscherbegehungen. Die konkreten Pläne für einen Teilabschnitt machte ich meist einige Jahre vorher, aber natürlich war es des Öfteren nötig, die Pläne an Ort und Stelle zu ändern.
Zunächst hatte ich allerdings noch nicht den Mut, mein Traumprojekt anzupacken. 1984 startete ich erst einmal eine bescheidenere Testüberquerung, nämlich eine Nord-Süd-Tour von Bad Kohlgrub nach Vittorio Veneto, in ähnlichem Stil. Als ich 1987 beim Erreichen des Inntals sicher war, dass das Konzept realisierbar war, entschloss ich mich, beide Projekte parallel zueinander weiterzuführen (bis 1996). Am 30. Mai 1988 war es so weit: Am Rand von Wien, in Perchtoldsdorf, begann meine Ost-West-Tour. Gut 30 Jahre später, nach rund 200 Höhenkilometern, konnte ich am 7. August 2018 in Menton an der französisch-italienischen Grenze meine Füße im Mittelmeer abkühlen. Eigentlich schade, dass die Alpen hier zu Ende sind!